W. Geiger u.a. (Hrsg.): Kritik des deutschen Kolonialismus

Cover
Titel
Kritik des deutschen Kolonialismus. Postkoloniale Sicht auf Erinnerung und Geschichtsvermittlung


Herausgeber
Geiger, Wolfgang; Melber, Henning
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Brandes & Apsel Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Hack, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die Kolonialvergangenheit ist bereits seit vielen Jahren fester Bestandteil öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten in Deutschland. Doch nach den beiden Herausgebern Wolfgang Geiger und Henning Melber gibt es noch viel zu tun. Konkret wollen sie mit ihrem Sammelband einen kritischen Blick auf die Erinnerung an und die Vermittlung des deutschen Kolonialismus werfen und diese um Dimensionen erweitern, die über eine historische Selbstkritik der Kolonisierenden hinausgehen.

Der Sammelband gliedert sich in zwei Teile. Im ersten mit „Die deutschen Schutzgebiete“ betitelten Teil werden sechs Länderstudien geboten, welche die „Wirkungen des deutschen Kolonialismus“ (S. 15) in den ehemaligen Kolonien beschreiben. Der Fokus liegt dabei auf den afrikanischen Gebieten. Ausgewiesene Experten der jeweiligen Kolonien wie Albert Gouaffo, Henning Melber, Dotsé Yigbe oder auch Herrmann Mückler fassen alleine oder in Co-Autorenschaft die Etablierung der deutschen Kolonialherrschaft in Kamerun, Namibia, Togo oder Ozeanien zusammen. Brutalität und Unmenschlichkeit deutscher Praktiken in den Kolonien stehen dabei im Vordergrund und werden beispielsweise am Genozid an den Ovaherero und Nama oder im Kontext des Maji-Maji-Krieges in Ostafrika verdeutlicht. Die Autoren sind darüber hinaus bemüht, lokale Perspektiven der Kolonisierten im Hinblick auf Widerstand und Mitgestaltung aufzuzeigen. Herausstechend sind insbesondere die Beiträge von Henning Melber und Israel Kaunatjike zu Deutsch-Südwestafrika sowie von Yann LeGall und Mnyaka Sururu Mboro zu Deutsch-Ostafrika. In beiden Fällen wird von Melber und LeGall eine kritische Zusammenfassung der deutschen Kolonialherrschaft geboten, welche Kanautjike und Mboro an einigen Stellen im Text mit zeitgenössischen und aktuellen Erinnerungsversatzstücken kommentieren und kontrastieren. Kanaujitke stellt beispielsweise dem historischen Vernichtungskrieg gegen die Ovaherero die lebendige und komplexe Erinnerung an Samuel Maherero zu jedem letzten August-Wochenende oder die Feier des Gibeon-Days der Nama (S. 59) gegenüber. Mnyaka Sururu Mboro erläutert die Bedeutung des Maji-Maji-Krieges für die tansanische Bevölkerung oder stellt mit der Wiedergabe eines Interviews mit Nkosi Emmanuel Zulu Gama, einem Nachfahren eines 1906 im selben Krieg gehängten Wangoni-Fürsten, die Erinnerung von lokalen Gemeinschaften in den Fokus (S. 109). Diese Schilderungen, Kommentierungen aber auch die Beschreibung der noch lange nach Ende der Kolonialzeit anhaltenden prodeutschen Haltung einiger Teile der Ewe in Togo (S. 89–91) gehören zu den Stärken des Buches, die einen Blick auf die Komplexität, Vielschichtigkeit und Problematik von Erinnerung eröffnen.

Umso mehr stellt sich die Frage, warum diesen Perspektiven im ersten Teil des Buches so wenig Raum gegeben wurde. Kommentierungen dieser Art finden sich nur in den erwähnten beiden Beiträgen. Überhaupt wird nur in drei der sechs Länderstudien, und anders als der Untertitel des Bandes erwarten lässt, Erinnerung zur Sprache gebracht, während es die Autoren der Studien zu Kamerun, „Kiautschou“ und Ozeanien bei vagen Andeutungen über die Nachwirkungen des Kolonialismus oder dem Wunsch nach „einem offenen und kontinuierlichen Dialogprozess“ (S. 122) belassen. Auch der in der Einleitung vorsichtig angekündigte Versuch eines Perspektivwechsel gelingt nur an wenigen Stellen. So stellen Gouaffo und Fossi in ihrem Beitrag zu Kamerun die koloniale Eroberung und Verwaltung ins Zentrum und deuten Widerstandsformen wie die Protestbriefe von Manga Ndumbe Bell, das Verbrennen von ausgehändigtem Saatgut oder falsches Dolmetschen nur an (S. 76f.). Diese Beiträge im ersten Teil des Bandes lesen sich daher lediglich als kompakte Zusammenfassungen der deutschen Kolonialgeschichte in den jeweiligen Ländern, wie sie in ähnlicher Weise bereits vielfach vorliegen.1

Demgegenüber lassen sich die vier Beiträge im zweiten Teil unter der Überschrift „Erinnerungskultur und Vermittlung“ wesentlich stärker dem Gesamtanliegen des Buches zuordnen. Dörte Lerp und Susanne Lewerenz berichten in ihrem Beitrag über die Kritik der Initiative „Kolonialismus im Kasten“ am Deutschen Historischen Museum und seiner Darstellung des deutschen Kolonialismus. Grundsätzlich bemängelten die Initiator:innen der 2009 gegründeten Initiative die Abhandlung des deutschen Kolonialismus in einem gesonderten „Kasten“ innerhalb des Museums sowie die unreflektierte Ausstellung von Originalmaterialien wie eines Fotoalbums mit Folter- und Mordszenen (S. 156). Der Kolonialkasten ist inzwischen – und laut den Autor:innen nur unter dem Druck von zivilgesellschaftlichen Initiativen – mit höherer Sensibilität und Umsicht umgestaltet worden. Allerdings bleibt die Forderung nach einer Darstellung des Kolonialismus als vielseitig verflochtener Aspekt der gesamten deutschen Geschichte im Museum bestehen.

In zwei Beiträgen beschäftigt sich der Mitherausgeber Wolfgang Geiger mit der Vermittlung des deutschen Kolonialismus in Schulbüchern für das Fach Geschichte. In seinem ersten Beitrag referiert er zunächst verschiedene Studien, die das Afrikabild in deutschen Schulbüchern zwischen 1990 und 2015 untersucht haben. Die Erkenntnis, dass Afrika in stereotyper Weise als exotisch, hilfs-/entwicklungsbedürftig und arm dargestellt wird, bezeichnet der Autor selbst als nicht überraschend (S. 148). In seinem zweiten Beitrag analysiert er aktuelle nur in Hessen verwendete Geschichtslehrbücher. Geigers Fazit fällt gemischt aus. Einerseits sieht er positive Entwicklungen wie die feste Etablierung des Kolonialismus und insbesondere des Völkermords an den Ovaherero und Nama in den Schulbüchern sowie eine zunehmend multiperspektivische Auseinandersetzung (gemeint sind lokale afrikanische Perspektiven). Grundsätzlich bleiben die Inhalte der meisten Schulbücher für Geiger allerdings bei einer oberflächlichen Geißelung von Rassismus und Imperialismus stehen und er vermisst eine „klare Delegitimierung kolonialer Inbesitznahme“ (S. 179). Die Priorisierung von „seitenlangen Auszügen aus Bundestagsreden“ (S. 180) gegenüber Originaldokumenten und afrikanischen Perspektiven zeigen seiner Meinung nach ein Verharren in einer kolonialen Sichtweise, auch in kritischen und reflektierten erinnerungskulturellen Äußerungen. Wie eine solche Sicht im Geschichtsunterricht dekonstruiert werden kann, zeigt Frank Schweppenstette abschließend in seinem Beitrag anhand einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Statue des Windhoeker Reiters. Bereits 2001 malten der deutsche Künstler Klaus Klinger und die namibische Künstlerin Natasha Beukes in Gelsenkirchen und Windhoek ein Wandgemälde an öffentlichen Plätzen auf, dass in ironischer Weise die Sprengung des Reiterstandbildes und seine Ersetzung durch einen weißen Hasen zeigt.2 Laut Schweppenstette lasse sich im Unterricht anhand des Gemäldes über die Erinnerung an den Kolonialismus und den Umgang mit Erinnerungsformen diskutieren.

Die in der Einleitung des Bandes angekündigten Absichten einer Erweiterung der erinnerungskulturellen Diskussion sowie eines graduellen Perspektivwechsel auf afrikanische Perspektiven werden die einzelnen Beiträge nur teilweise gerecht. Besonders im ersten Teil des Bandes werden lokale afrikanische oder postkolonial aktivistische Perspektiven auf die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus oftmals lediglich angedeutet und nicht konsequent weitergeführt. Der zweite Teil erscheint mit seinem Fokus auf Fragen der Vermittlung von Kolonialgeschichte anhand von Fallbeispielen im Museum, Schulbüchern und in der Unterrichtspraxis demgegenüber wesentlich aufschlussreicher.

Anmerkungen:
1 Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2005; Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2019 (4. Auflage) oder im Themenblock „Kolonialismus und Imperialismus“ der Bundeszentrale für politische Bildung.
2http://www.farbfieber.de/UNIQ165227114714849/doc187A.html (22.6.2022).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch